Wir haben hier mittlerweile eine ganze Reihe von unterschiedlichen Aspekten angesammelt, die alle ziemlich interessant sind. Ich versuche mal, das ein wenig zu gliedern, Vorsicht, es wird etwas länglich
Die Zustimmung des Volkes Loslösung von Russland
Handrij hat geschrieben:
Woher nimmst du diese Behauptung???
Die Ukraine gab es damals schon erstmal nicht.
Ich beziehe mich vor allem auf die erste ukrainische Rada von 1917. Rudolf A. Mark schreibt in seinem Aufsatz "Die gescheiterten Staatsversuche" zu diesem Abschnitt folgendes:
Was diese Parteien verband und sie unter dem Dach der Rada zusammenhielt, war das gemeinsame Bestreben, in der Ukraine autonome Strukturen zu schaffen und das Nationalbewusstsein zu stärken, um den überkommenen russischen Zentralismus zu überwinden. Dabei konnte die Rada auf die Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung rechnen. Die in der Ukraine aktiven Bolschewiki bewegten sich in jener Zeit auch deshalb am Rande des politischen Geschehens, weil sie - im Gegensatz zu Lenin übrigens - das Recht auf nationale Selbstbestimmung ablehnten bzw. es gänzlich den vermeintlich vorgängigen Interessen des internationalen Kampfes für den Sozialismus unterordneten. Außerdem waren sie fast durchweg Russen oder Juden, denen ukrainischer Nationalismus fernlag.
Hierbei muss natürlich angemerkt werden, dass diese Ereignisse sich
vor dem ersten wenigstens von einigen Ländern anerkannten ukrainischen Staat unter Skoropadskyj abspielten und dass es sich bei der Gründung der Rada um einen Zusammenschluss sowohl national orientierter als auch sozialrevolutionärer Kräfte handelte. Die Zustimmung im Volk hatte mit Sicherheit auch damit zu tun, dass man die Ausbeutung durch die herrschende Klasse (die eben nun einmal zuvor im wesentlichen russisch dominiert gewesen war) abschütteln wollte und eine unabhängige Ukraine als geeignetes Mittel zu diesem Zweck betrachtete.
Das "Hetmanat" unter Skoropadskyj
Skoropadskyj stand nur für eine der Kräfte, die in der Rada repräsentiert worden waren und stand nach der Verdrängung der Rada vor der Aufgabe, den in der Entstehung befindlichen Staat in irgendeiner Form überlebensfähig zu machen. Da sich Russland nach wie vor im Krieg gegen Deutschland befand, schied die Entente als Bündnispartner aus, und es blieben nur die Achsenmächte. Dass diese Skoropadskyjs politische Bewegungsfreiheit auf ein Minimum reduzieren würden, war wohl selbst ihm selber klar, aber es gab kaum eine Alternative (später gab es ja durchaus Versuche, die Unterstützung der Entente zu gewinnen, die aber außer ein paar netten Worten eigentlich keine nennenswerte Hilfe leistete).
Skoropadskyj nun als "Marionette" zu bezeichnen, ist vor allem in der russophilen Geschichtsschreibung populär, weil es der Argumentation nützlich ist, nach der der Ukrainische Staat eigentlich keine Daseinsberechtigung hatte, tatsächlich wird es Skoropadskyjs Leistungen aber nicht gerecht. Dass er kein Sozialrevolutionär war (er war General und Adliger), ist ja bekannt, also war von ihm auch keine Bodenreform oder ähnliches zu erwarten, dennoch sollte man seine Leistungen insbesondere im Bildungswesen (rund 150 neu eröffnete ukrainische Gymnasien, die Einleitung der Gründung einer ukrainischen Akademie der Wissenschaften, die aber durch den Zusammenbruch des Staats nicht vollendet werden konnte) anerkennen.
Andere politische Kräfte in der Ukraine zu jener Zeit
Handrij hat geschrieben:
Es gab die Ukrainische Volksrepublik in und um Kiew, die West-Ukrainische Volksrepublik, im Gebiet Jekaterinoslaw/Dnepropetrowsk die Machnowschtschina und das Rumtscherod in Odessa und mit der überwältigenden Mehrheit des Volkes wäre ich vorsichtig.
Tatsächlich gab es eine große Zahl unterschiedlicher Gruppierungen mit unterschiedlichen Zielsetzungen, die aber durchaus nicht alle im Widerspruch zu einer Loslösung der Ukraine von Russland standen. Zunächst fällt mir zu der "Ukrainischen Volksrepublik" um Kyiv ein, dass die ziemlich schnell in der Bedeutungslosigkeit versank und schon früh aus Kyiv nach Kharkiv abgedrängt wurde.
Handrij hat geschrieben:
Ich habe es schon mehrfach erwähnt, aber in diesem Nationbulding-Geschichtskonstruktionsspiel in der Ukraine wird auffälligerweise kein Rekurs auf die ukrainische Bauernbewegung um Machno genommen und das obwohl diese sich länger als die Volksrepublik hielt! Verwunderlich ist es nicht, denn diese hat den ganzen Nationsschwachsinn nicht mitgemacht.
Was Makhno betrifft, hat Stefko ja auch schon einiges dazu geschrieben; was ich über ihn erinnere, ist primär dass er vor allem seinen eigenen, anarchistisch geprägten Ziele verfolgte, dabei aber im scharfen Widerspruch zu Russland, sowohl rot und weiß stand, während er mit der ukrainischen Republik zumindest eine Art Koexistenz und ein sehr kurzzeitiges Bündnis pflegte - dass er ein ukrainischer Nationalist gewesen wäre, wird sicherlich keiner ernsthaft behaupten wollen. Andererseits hatte er auch nur ein recht überschaubares Gebiet unter seiner Kontrolle.
Tatsächlich finde ich hier den Begriff "Nationsschwachsinn" reichlich daneben. Das Autonomiebestreben gegenüber Russland hatte sowohl nationale als auch wirtschaftliche Ursachen, und für beide dieser Ursachen gab es gute Gründe (was die von Dir negierten nationalen Ursachen betrifft, möchte ich nur einmal kurz an den Emser Erlass als Beispiel für die systematische Unterdrückung der ukrainischen Sprache und Kultur durch die Zaren erinnern). Wenn jemand daraus einen Mythos konstruiert, werden die historischen Tatsachen dennoch nicht zu "Schwachsinn"!!!
Gründe für den Sieg der Roten in der Ukraine
Handrij hat geschrieben:
Die Sowjets haben nicht nur wegen ihrer Disziplin und Härte gewonnen, damit wird man den damaligen Verhältnissen nicht gerecht.
Warum denn? Mir fallen dazu spontan eigentlich primär Dinge ein wie Zugriff auf Kriegsresourcen (Waffen, Soldaten etc.), Uneinigkeit der politischen Kräfte sowie Mangel an Verbündeten in der Ukraine.
Gerade letzterer Punkt ist interessant. Polen verfolgte nach seiner Loslösung aus dem habsburgischen Reich eine imperialistische Politik, die mit der Wiederherstellung der Grenzen von 1717 (also der Eingliederung des ruthenisch dominierten Galiziens)
nur anfing. Längerfristige Ziele umfassten die Errichtung einer polnischen Einflusszone in der Zentralukraine, die nebenher auch als Rohstoffquelle und Puffer gegenüber Russland dienen sollte. Da nach Kriegsende Polen die einzige nennenswerte Macht war, die als Bündnispartner gegen Russland in Frage kam, hätte man die Westukraine opfern müssen (was man ja schließlich auch tat). Die Westukrainer hingegen wollten um keinen Preis wieder unter polnische Herrschaft und waren dazu sogar bereit, sich mit Denikin und seinen Weißen zu verbünden.
Das alles sind natürlich nur Episoden, Du hast ganz richtig festgestellt, dass jener Teil der Geschichte reichlich komplex ist. Fakt ist, dass der ukrainische Staat in all seiner Schwachheit die territorial größte und auch sonst am ehesten zusammenhängende Größe in diesem Teil des zerfallenden Zarenreichs war.
Es genügt nicht, nur keine Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken!