PolitikDer Freitag: Der Saft der Sehnsucht

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Handrij
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Ukraine

Der Freitag: Der Saft der Sehnsucht

Beitrag von Handrij »

Der ­ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch über die Zerrissenheit seines Landes zwischen Europa und Russland und die Architektur der europäischen Stadt

Der Freitag: Herr Andrucho­wytsch, erinnern Sie sich daran, dass Sie 1992 von einer Reise in ihre Heimat Ukraine zurückgekehrt sind und sich beklagt haben, dass man in Lemberg nachts keine Kondome kaufen kann?
Ließ sich vom "mitteleuropäischen Klein-Klein" inspirieren: Juri Andruchowitsch (Fotos: Susanne Schleyer, Martin Romers/LAIF)

Juri Andruchowytsch: Wenn ich heute meine Texte aus der damaligen Zeit lese, ist mir peinlich, wie naiv ich war. Andererseits war es wirklich dramatisch: als ich damals aus München zurückkehrte, dachte ich, dass die drei Monate im paradiesischen Garten Europa eine Erfahrung waren, die sich nicht wiederholen würde. Dass die Mauer wieder an der Grenze hochgezogen wird, dass ich für immer zu einem Leben ohne Abendkondome und Zigarettenautomaten verurteilt bin. Damals dachte ich, dass es ein Ende war. Aus heutiger Sicht war es ein Anfang.

Was heißt naiv? Für mich wäre so ein unmittelbar sinnlicher Blick auf Europa nicht möglich. Europa ist für uns nichts zum Staunen, nichts Kostbares.

Als ich aus Europa zurückkam, lag mein Vater im Krankenhaus. Er war erschöpft und blass. Er brauchte Vitamin, Säfte, und ich kam aus einer Welt, in der Orangensäfte nicht viel mehr als Wasser gekostet haben. Bei uns gab es sie nicht. Das klingt, als würde ich den materiellen Wohlstand feiern, ich meine aber etwas anders: Ich muss meinen Vater irgendwie retten, und ich habe keine Mittel dazu.

Europa als eine Märchengeschichte.

Inzwischen haben wir jede Menge Orangensäfte.

Sie haben eine Sprache für Europa, die uns fehlt. Was genau meint zum Beispiel der Begriff „europäisches Klein-Klein“, den Sie in Ihrem Buch „Geheimnis“ erwähnen?

Der Begriff stammt aus der Zeit, als ich in Moskau studiert habe. Gegen Ende der Sowjetunion gab es ein Seminar, wo auch meine Gedichte besprochen wurden. Ein Kollege, ein russischer Dichter, sagte, er sehe in meinen Texten nichts Ukrainisches, da gebe es nur dieses „mitteleuropäische Klein-Klein“. Das ist aus der russischen Perspektive gesprochen. Sie ist vom geographischen Raum geprägt. Aus dieser Perspektive schaut man auf Europa als etwas wirklich Kleines. Vor allem territorial, aber auch geistig klein, provinziell. Im Vergleich mit dem Diskurs von Tolstoi oder Dostojewski. Ich teile diese Sicht nicht. Bei mir ist der Begriff „mitteleuropäisches Klein-Klein“ parodiert.

Dagegen bezeichnen Sie die Ukraine als die „größte objektive Gegebenheit Europas“. Was meint das? Ist das auch ein geographischer Begriff?

Die Ukraine ist das größte Land Europas...

...ist Russland nicht größer?

Natürlich, aber die Russen selber denken nicht, dass ihr Land ein europäisches Land ist. Allerdings ist die Bevölkerung der Ukraine unverhältnismäßig klein im Vergleich zu seiner gewaltigen Fläche. Wir haben nur halb so viele Einwohner wie Deutschland. Tendenz sinkend. Es gibt viel Auswanderung und eine sinkende Geburtenrate. Der Prozess des Bevölkerungsrückgangs hat sich allerdings schon verlangsamt. Neben der Sicht des Territoriums meint „größte objektive Gegebenheit“ die Zerrissenheit, die konfliktreiche Befindlichkeit des Landes, das sich eben nicht immer und überall als Teil Europas versteht. In unserem Bewusstsein gibt es eine definitive Grenze. Man sagt „in Europa“, und meint: irgendwo anders. Genauer: „westlich“. Von Ukrainern, die wissen, dass ich längere Zeit in Berlin und anderswo lebe, werde ich gefragt: „Na, wie geht es dir dort in Europa“?

Die Zerrissenheit gilt aber auch für ureuropäische Länder. Denken Sie an Italien.

Zur Pressekonferenz meines ­Theaterstücks „Orpheus Illegal“ in Kiew war auch ein süditalienischer Schauspieler angereist. Er sagte, dass er viel Ähnliches sehe, „ihr träumt von Europa, und wir in Sizilien auch“.

Mehr noch ähnelt die Lage der Ukraine derjenigen der Türkei.

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